Ich bin nahezu wöchentlich unterwegs bei Unternehmen und lerne dort die verschiedensten Innensichten des Wirtschaftens kennen. Neulich war ich bei einem sehr großen Player im Süden Deutschlands, der sich so schnell wie möglich zu DER digitalen Industrie-Company entwickeln möchte. Meine Aufgabe dabei: Junge Führungskräfte auf ihre neue Tätigkeit in der VUCA Welt vorbereiten. Agile Methoden, Disruptives Denken, Mindfulness und was sonst noch zum guten Ton des zeitgemäßen Managements gehört, all das war aus den Mündern der Nachwuchskader zu hören.
Die Stimmung wimmelt während des Seminars und auch abseits davon. Es geht zum Mittagessen. Eine der Teilnehmerinnen ist eine „Neue“ und war erst Monate zuvor von einem großen Telekommunikationsunternehmen hierher gewechselt. Sie erzählt folgende Geschichte:
„Ich bin hier angekommen und erhielt zu Beginn einen Rundgang über das Firmengelände. Am Eingang eines Gebäudes ging ich auf eine geradezu altertümliche Gerätschaft zu. Eine Stechuhr mit Stechkarten an der Wand. Die „Anwesend“ Seite war recht gut gefüllt, auf der „Abwesend“ Seite waren bedeutend weniger der Pappkarten zu finden. Ihrem Guide gegenüber machte sie den Witz: Na, ist wohl noch ein Relikt aus der Industriegeschichte? – Nein! entgegnete ihr Gegenüber. Wahrscheinlich weißt du gar nicht, wie das funktioniert?! Das ist ganz einfach. Ich erkläre es dir: Von der Abwesend-Seite nimmst du deine Karte morgens, steckst sie in die Stechuhr und ordnest sie auf der anderen Seite wieder ein. Am ende des Tages dann genau anders herum. So ist immer ersichtlich, ob du da bist oder nicht. Am Ende des Monats erfasst du dann deine Arbeitszeiten in einer Excel-Tabelle, die du dann bitte ausdruckst und unterschreibst, ehe du sie dann einscannst und an unsere Kollegen der Arbeitszeiterfassung in Rumänien schickst, die das dann ins System einpflegen und dir dann eine Mail schreiben, um die Daten auf ihre Richtigkeit hin von dir überprüfen zu lassen. Nachdem das erfolgt ist, werden deine Arbeitszeiten an HR gemeldet und alles geht seinen geordneten Lauf“.
Sie musste lachen, als sie mir das erzählte. „Das ist echt so! Ich stemple jetzt jeden Tag an der Stechuhr!“ Auch ich musste lachen. Auf die Frage, warum immer noch diese antiquierte Form der Zeiterfassung gewählt wurde, warum eigentlich überhaupt die Arbeitszeit gemessen werden müsse, kam von den um uns herum sitzenden anderen Teilnehmern folgende Begründungen:
- Die Arbeitgeber konnten sich mit den Arbeitnehmervertretern nicht auf eine standardisierte Messmethode einigen.
- Da die Tarifkräfte immer noch Arbeitszeitkonten zu führen hätten, brauche es eine unabhängige Methode. Die Stechuhr sei da seit langer Zeit ein bewährtes Mittel.
- Viele Mitarbeiter wünschen sich Orientierung bezüglich ihrer Zeiten im Beruf.
Ich musste nachdenken. Einerseits reden wir von den abgefahrensten Zukunftsutopien und gleichzeitig kriegen wir es nicht hin, die richtigen Rahmenbedingungen im Jetzt zu schaffen, damit diese Utopien auch real werden können. Das Ergebnis sind solch absurde Blüten, die wir eben am Mittagstisch gehört haben. Da fällt mir Beppo der Straßenkehrer, der seiner Freundin Momo folgenden Dreiklang zeigte: Schritt, Atemzug, Besenstrich. Eins nach dem anderen. Wenn wir zu sehr hetzen, katapultieren wir uns in eine Sackgasse und produzieren doppelt und dreifach Arbeit. Im Endeffekt dauert es dann doch nur länger. Viele kleine Schritte ergeben am Ende der Entwicklung einen langen langen Weg, den man zurückgelegt hat. Entscheidend dabei sind die Führungskräfte, die Leader, die wissen, wann die Zeit für Entwicklung gekommen ist, das aber stets im Blick haben. Bei Interesse hier ein Artikel meines Freundes Louis Klein von der European School of Gvernance: https://systemic-change-institute.de/the-tai-chi-of-successful-change-forget-disruption/
Stay futured!
Matthias